Kompakt, flexibel, effizient: 90 Minuten MINT
Viele Branchen und Betriebe klagen über Nachwuchsmangel, von der kleinen IT-Schmiede bis zum Großunternehmen. Besonders im MINT-Bereich ist der Fachkräftemangel schon seit Jahren unvermindert hoch, mit der Digitalisierung hat sich das Problem noch verschärft.
Ein bewährtes Gegenmittel sind Praxiskontakte so früh wie möglich, so die Erfahrung der Initiative NAT, die seit über zwölf Jahren junge Menschen in der Metropolregion Hamburg für Naturwissenschaft und Technik begeistert. Aber gerade kleinere Unternehmen scheuen den Zeitaufwand, der mit Schülerexkursionen und Praxistagen gemeinhin verbunden wird. Dabei geht es auch kompakt, erläutert Sabine Fernau, NAT-Gründerin und Geschäftsführerin, in diesem Gastbeitrag.
Eine Schuldoppelstunde bei einem Start-up
Der Büroraum im dritten Stock des Coworking Space ist hell und freundlich, durch die Glasfronten blickt man auf Hamburgs pulsierende Innenstadt rund um den Gänsemarkt, Küche, Kaffee und Wasser werden gestellt: Dass Entwickler nicht, wie bisweilen gedacht, in dunklen Kellerräumen vor kalten Bildschirmen sitzen, ist die erste Lektion, die Physikprofilschüler vom Matthias-Claudius-Gymnasium im Format „90 Minuten MINT“ lernen. Die zweite: Über „GitHub“ (eine Art Facebook für Software-Projekte), den täglichen, gemeinsamen Blick auf den Code und die Treffen mit Investoren und Interessenten ist Kommunikation angesagt – stille Einzelgänger haben keine guten Karten. Schließlich: Auch wenn ein Startup durch Steuergelder finanziert wird, bekommt es nichts geschenkt, es muss sich ständig beweisen und verbessern.
Eigentlich hat das vierköpfige Team der Tenzir GmbH, ein IT-Security-Startup mit dem Fokus auf Netzwerkforensik, also genug zu tun: Es entwickelt Software zur Aufklärung komplexer Hacker-Angriffe, will aber auch im Vorfeld die Cybersicherheit erhöhen. Dennoch ruht die Arbeit an diesem Vormittag für anderthalb Stunden: Das gesamte Tenzir-Team nimmt sich Zeit für die Schülerfragen und ist auch selbst neugierig, welche Vorerfahrungen die 16- und 17-Jährigen mitbringen. „Wir haben alle selbst Kinder“, erklärt Gründer und Geschäftsführer Matthias Vallentin das Engagement. „Wir hoffen, dass sie später auch so vielseitige Einblicke in Technik und Informatik erhalten.“ Für ein junges Start-up, dessen Produkte noch nicht am Markt sind, sei es wichtig, Denkanstöße zu geben und sich zu vernetzen. Und schließlich gelte: „Der Zeitaufwand war nicht so groß.“
Ein Blick in die Praxis
Kleiner Aufwand, große Wirkung: Durch die offene Atmosphäre und Nähe bei „90 Minuten MINT“ können persönliche Beziehungen aufgebaut werden, die Themen Studienfachwahl, Ausbildung und Berufseinstieg kommen auf natürliche Art zur Sprache. Bisher haben sich dafür hauptsächlich Hochschulen, Mittel- und Großunternehmen bei NAT engagiert. Start-ups sind erst seit 2018 dabei, als die Digitalisierung die Informatik in den Fokus rückte. Mehr noch: Auch die IT-Branche spürt, dass sie um die schlauen Köpfe buhlen muss. Wer bei einem Start-up wie Tenzir mitarbeiten will, braucht mindestens ein abgeschlossenes Informatikstudium. „Was wir machen, ist schon sehr technisch und alles andere als trivial“, sagt Matthias Vallentin. Der Gründer steht für eine neue Generation, der das Engagement für den Nachwuchs auch ein persönliches Anliegen ist. Sie ist gut vernetzt und weiß, was in anderen Teilen der Welt vorangetrieben wird und vor allem wie rasant es geht. „Vuca“ steht in der Sprache der Gründer für volatil, unsicher und mehrdeutig.
Jung, weiblich und interessiert an Algorithmen?
Für die Fachkräftesicherung ist die Schnelligkeit, mit der die Digitalisierung unser Leben verändert, die eigentliche Herausforderung: Manche Umsetzung erfolgt heute fast zeitgleich mit der Idee, die Komplexität nimmt zu. WLAN und Tablets an den Schulen sind das eine – wichtiger für den Nachwuchs und für Lehrer ist jedoch, zu verstehen, was hinter den Schlagworten KI oder Blockchain wirklich steckt. Nur dann können Chancen gesehen, eigene Ideen entwickelt und neu Lösungen vorangetrieben werden. Wir benötigen deutlich mehr junge Leute, gerade auch Frauen, mit einem guten Verständnis für Algorithmen, Informatik und Softwareentwicklung. Wir bei NAT tragen dazu gern unseren Teil bei: Wir nehmen in unserem Mädchenprogramm mint:pink verstärkt digitale Themen und Start-ups in den Blick, wir fördern besonders begabte „Nerds“ bei mint:pro und wir investieren in eine digitale, portalgestützte Koordination zwischen Schule und Wirtschaft – um junge Menschen für 90 Minuten MINT in den Austausch mit ihnen zu bringen. Wenn ich mir etwas wünschen darf: Mehr finanziellen Spielraum für die Umsetzung unserer Projekte! Ganz im Sinne des ehemaligen Wirtschaftssenators Frank Horch: „Ich möchte die Unternehmen in der Region dazu aufrufen, sich bei NAT als Partner zu engagieren. Denn die klugen Köpfe, die wir heute für uns gewinnen, müssen wir morgen nicht mehr suchen.“
90 Minuten MINT
Das Format 90 Minuten MINT vernetzt Theorie und Praxis, Unterricht und Berufswelt in einer Schuldoppelstunde. Es ist curricular eingebunden, die Schüler werden in die Pflicht genommen: Sie arbeiten in Kleingruppen, entwickeln eigene Fragestellungen und wählen etwa einen Teamsprecher, der die Organisation übernimmt. Anschließend tragen sie die Erfahrungen und Erkenntnisse wieder zurück in den Unterricht und tauschen sich aus. Viele Vorteile, die auch die Hamburger Schulbehörde überzeugt haben. Die aufgewendete Zeit kann für die Berufs- und Studienorientierung („BoSo“) angerechnet werden, die seit dem Schuljahr 2018/19 auch in der gymnasialen Oberstufe verbindlich ist. Zudem wird das neue Portal „mintmatch“, das den Abgleich und die Zuordnung zwischen Unternehmen und Schulen digitalisiert, von der Schulbehörde mitfinanziert.
mint:pink
Kleiner Aufwand, große Wirkung: Diese Faustformel für die Fachkräftesicherung von morgen hat sich bewährt. Etwa bei dem Mutmach-Programm mint:pink für Mittelstufenschülerinnen: Bevor die Schülerinnen sich auf die Wahl eine Profilkurses festlegen, sollen insbesondere naturwissenschaftlich begabte und interessierte Mädchen, sich noch einmal an fünf Praxistagen mit den eigenen Neigungen und der Option MINT auseinandersetzen. Zum Abschluss tauschen sie sich in einem Speed-Dating mit gestandenen Ingenieurinnen, Naturwissenschaftlerinnen oder MINT-Berufseinsteigerinnen über Studium und Voraussetzungen, Berufsfindung und -alltag aus. www.mintpink.de
Über NAT
Die Initiative Naturwissenschaft & Technik wurde 2007 von den Wirtschaftsrat-Mitgliedern Helmut Meyer und Sabine Fernau sowie Prof. Wolfgang Mackens gegründet. Fünf Hamburger Hochschulen, das Deutsche Elektronen-Synchrotron, die Körber-Stiftung, die Hamburger Technologie Stiftung, die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation sowie zahlreiche Unternehmen und Schulen engagieren sich in der Bildungsinitiative. Inzwischen beschäftigt die Initiative vier Mitarbeiter.
Nachstehend finden Sie den Originalartikel (PDF), WIR IM NORDEN vom März 2019.